VIA DOLOROSA

 

 

 

 

 

 

 

 

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Einführung VIA DOLOROSA

So vielschichtig der Kreuzweg christlicher Tradition ist, so komplex erscheint jedes einzelne Bild aus der vierzehnteiligen Serie „Via Dolorosa“ (2006-2007) der chilenischen Künstlerin Lilian Moreno Sánchez. Die technischen Angaben sind sachlich mit Druck, Zeichnung und Gold auf Stoff beschrieben, doch erweisen sich die verwendeten Materialien rasch als Bedeutungsträger. Als Trägerstoff der gesamten Werkserie hat sich die Künstlerin alte Bettwäsche aus einem Krankenhaus besorgt. Augenblickliches Leid und ein Prozess der Heilung sind der stofflichen Textur eingewoben. Segmente eines Renaissancegemäldes auf goldenem Grund – es handelt sich um Sandro Botticellis „Beweinung Christi“ aus der Alten Pinakothek in München – als Referenz an die abendländische Kultur stehen zeichnerisch überarbeiteten Röntgenaufnahmen deformierter menschlicher Körper gegenüber. Beide sind geheimnisvoll durch ein in den Stoff genähtes Liniengeflecht verbunden, das den ästhetisierten Formen des Leids reale Verletzungen hinzufügt. Zwischen ihnen liegen farbige Stoffstreifen, auf denen Fragmente früherer Altarwäsche appliziert sind. Das Schicksalhafte allen Leidens und der Reinigungsprozess der Seele werden zum eigentlichen Thema des Kreuzwegs.

Lilian Moreno Sánchez knüpft an den bedeutendsten Kreuzweg des 20. Jahrhunderts an, Barnett Newmans 1958 bis 1966 gemalte Serie „The stations of the cross“, die den Zusatztitel „lema sabachthani“ trägt und in der National Gallery in Washington zu sehen ist. „Lema sabachthani – warum? Warum hast du mich verlassen?… Dies ist die Passion. Dieser Aufschrei Jesu. Nicht der schreckliche Weg die Via Dolorosa hinauf, aber die Frage, die keine Antwort hat,“ meinte der in der jüdischen Tradition aufgewachsene Künstler über die Wesenhaftigkeit des Leidensweges Christi. Der Kreuzweg ist kein äußerlicher Weg mehr, der Stationen des Leidens Jesu abschreitet, sondern eine immer wieder gestellte Frage, auf die es keine Antwort gibt. Das Episodische, das allzuschnell in illustrativer Vergegenwärtigung erstarrt, hat Lilian Moreno Sánchez abgelegt. „Ich habe den Kreuzweg als Metapher für das menschliche Leid gewählt“. „Via Dolorosa“ ist ein zutiefst innerer Weg.

Carmen Roll

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